Yoga Community als sicherer, gewaltfreier Ort für alle?
Das wäre schön.
Es gibt diese Momente, in denen einem der Atem stockt und man sich fragt, wie es sein kann, dass in einer Praxis, die „Frieden“, „Achtsamkeit“ und „Gewaltlosigkeit“ predigt, solch massive Missbräuche passieren? Yoga hat sich im Westen zu einem Milliardenmarkt entwickelt. Aber der Preis, den manche dafür zahlen, ist hoch – und er wird auf den Schultern derer gezahlt, die sich in die Hände von zweifelhaften Gurus begeben haben. Und dabei geht es nicht nur um die kommerzielle Ausbeutung des spirituellen Marktes, sondern auch um die perfide Art und Weise, wie hier Machthierarchie missbraucht und Menschen über Jahrzehnte hinweg verletzt werden.
Und ja, das ist nicht einfach nur ein „Einzelfall“. Es ist ein System.
Der „heiße Guru“
Wenn wir über die schlimmsten Skandale in der Yoga-Welt sprechen, müssen wir zwangsläufig über Bikram Choudhury sprechen. Der Mann, der Yoga in ein heißes Fitness-Format umwandelte (einschließlich der Veranstaltung von Yogawettbewerben) und es als „Bikram Yoga“ bekannt machte, hat nicht nur die Praxis des Yoga verändert – und das nicht unbedingt zum Besseren –, sondern er hat sie in eine Machtdemonstration verwandelt. Choudhury wurde nicht nur von zahlreichen Frauen beschuldigt, sie sexuell belästigt und missbraucht zu haben, sondern eine ganze Gemeinschaft unterworfen – mit dem perfiden Mechanismus, dass seine Schüler ihm auch in ethischen und moralischen Fragen vollkommen ausgeliefert waren. Doch die Tragödie geht weiter. Choudhury flüchtete nach der Verurteilung zu 7 Millionen Schadensersatz nach Indien und... unterrichtet weiter und bildet Lehrer:innen aus.
Der Fall Choudhury bleibt ein tragisches Beispiel für die erschreckende Diskrepanz zwischen dem Vertrauen, das Yogalehrer in der westlichen Welt genießen, und der mangelnden Unterstützung für die Opfer seitens der Community. Während Choudhury weiterhin in der Öffentlichkeit präsent ist und seine Anhänger:innen in verschiedenen Ländern die Tür für seine Rückkehr offen halten, stellt sich die Frage, wie lange der Fall von sexuellem Missbrauch und Machtmissbrauch noch ignoriert oder heruntergespielt werden kann.
Yogi Bhajan und die dunklen Seiten des Kundalini-Yogas
Doch Bikram Choudhury ist nicht der einzige, der den „heiligen Raum“ des Yoga missbraucht hat. Yogi Bhajan, der Guru hinter dem Kundalini Yoga, wurde posthum von zahlreichen ehemaligen Schülerinnen und Schülern beschuldigt, sie über Jahre hinweg sexuellen Übergriffen ausgesetzt zu haben. In den 1970er Jahren gründete er die 3HO-Organisation und etablierte sich als spiritueller Führer einer ganzen Bewegung. Bis zu seinem Tod 2004 war er politisch und religiös weltweit anerkannt und traf Führer wie Papst Johannes Paul II., den Dalai Lama und Bill Clinton. Doch hinter der Fassade versteckte sich ein Mann, der seine Autorität nutzte, um Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren. Besonders frauenfeindliche Strukturen wurden im Inneren dieser Bewegung aufrechterhalten – und das unter dem Deckmantel der „Erleuchtung“. Dass dieser Mann sich als sexueller Missbraucher entpuppte, zeigt, wie gefährlich es ist, wenn Macht so unreflektiert auf jemanden konzentriert wird. Und auch hier: Die Verantwortung liegt nicht nur bei ihm, sondern bei all denen, die bis heute die Glaubwürdigkeit der Opfer anzweifeln.
Iyengar und Patthabi Jois
Ich habe diese beiden vielleicht wichtigsten indischen Lehrer und die Anschuldigungen gegen sie in einer Reihe von Blogs über Yogastile erwähnt. Jeder von ihnen hat die Entwicklung des modernen Yoga maßgeblich beeinflusst und hat zur Verbreitung des Yoga im Westen beigetragen. Leider sind beide auch durch den Gebrauch ihrer Macht belastet.
B.K.S. Iyengar ist vielleicht der bekanntere und einflussreichere unter den beiden. Doch es gibt auch bei Iyengar klare Hinweise auf ein autoritäres und kontrollierendes Lehrer-Schüler-Verhältnis. Es gibt Berichte von ehemaligen Schüler:innen, die von einem gewaltsamen Umgang mit Körper und Geist berichten. Die Betroffenen erzählen, dass er während des Unterrichts ungeduldig, ja aggressiv und beleidigend sein konnte, und einige zeugten von emotionaler und körperlicher Misshandlung während seiner Lehrmethoden.
Ich kann mir das sehr gut vorstellen, denn zu Beginn meiner Yogapraxis hatte ich selbst eine Begegnung mit einer polnischen Iyengar-Autorität. Der Lehrer drückte auf den Körpern der Praktizierenden herum, unbeeindruckt von klaren Anzeichen der Grenzüberschreitung. Was mich noch mehr entsetzte: Er suchte sich gezielt eine psychisch unsichere Person aus, meistens eine Frau, um sie vor allen anderen bloßzustellen. Später erlebte ich die Mentorin dieses alten Lehrers, eine Iyengar-Koryphäe aus Italien. Ihr Unterricht stand ihm in nichts nach. Beide beriefen sich auf den Namen Guruji Iyengar, den sie als eine Art unantastbare Autorität priesen, der noch härter war als sie beide. Sie gaben zu, dass er die Schüler schlug – er musste es tun zum „Wohle der Betroffenen“. Und was sagten sie noch? „Er war streng, aber liebevoll“.
Pattabhi Jois, der legendäre Ashtanga-Yoga-Lehrer, ging noch weiter. Neben der Tatsache, dass er seine Schüler:innen teilweise brutal in Positionen drückte, oft ohne deren Zustimmung, berichteten viele Frauen von sexuellen Belästigungen und Übergriffen, die während des Unterrichts stattfanden. Sie wurden bei der Korrektur der Asanas an intimen Stellen berührt oder in unangemessene Situationen gedrängt. Diese Berichte wurden über Jahre hinweg von vielen in der Ashtanga-Yoga-Community ignoriert, bis sich eine größere Anzahl von Betroffenen zu Wort meldete.
Auch wenn einige seiner Anhänger versuchten, die Vorwürfe zu relativieren oder zu ignorieren, wurde zunehmend deutlich, dass Jois' Einfluss auf die Praxis und sein Verhalten untrennbar miteinander verknüpft sind. Auch im Fall Jois zeigt sich, wie die Verehrung von „Meistern“ und die unkritische Akzeptanz autoritärer Lehrmethoden den Weg für Missbrauch ebnen können.
Patriarchale Strukturen im Yoga und ihr Beitrag zum Missbrauch
Die Liste der Missbräuche in der Yoga-Szene ist noch sehr lang und selbstverständlich nicht nur mit indischen Lehrern besetzt. Alle diese Erfahrungen machen deutlich, wie eine autoritäre Lehrer-Schüler-Beziehung zur Schaffung von Missbrauchsräumen beitragen kann. All das sind keine Einzelfälle von Persönlichkeiten, die ihre Macht ausnutzten, sondern sind eng mit den patriarchalen Strukturen verbunden. Alle Gurus, die in den 50er Jahren den Westen bereisten, um Yoga zu verbreiten, waren indische Männer. Sie haben ein Verständnis für einen Unterrichtsstil und Position des Lehrers in der Gesellschaft mitgebracht, der einigermaßen mit den damaligen westlichen Gesellschafts-, Erziehungs- und Bildungsmustern konform war. Yoga fiel auf fruchtbaren Boden.
Die Praxis wurde dabei jedoch zweimal umgekrempelt: Zum einen überschattete der körperliche Aspekt von Yoga andere weit bedeutendere Teile, wie Achtsamkeit und Meditation, und mutierte zu Stretching- und Entspannungskursen in Fitnessstudios. Zum anderen wurde Yoga von der weißen, mittelständischen Frau annektiert.** Nicht allen männlichen Yogalehrern, auch den westlichen, ist es bewusst, was es bedeutet mit dem Frauenkörper zu tun zu haben. Sowohl auf der biomechanischen Ebene als auch auf gesellschaftlichen.
Dennoch: Yoga entstammt einer patriarchalen und stark hierarchischen Gesellschaft, Philosophie und Praxis sind vorwiegend von Männern aus höheren Kasten entwickelt – und praktiziert.
Was ist also mit der Stellung des Gurus im modernen Yogakontext?
Zuerst muss man klären, was das Wort „Guru“ eigentlich bedeutet. Manche Lehrer:innen verwässern die Macht, die das Wort mit sich trägt, und „übersetzen es frei“ in „das Erleuchtungsprinzip“. Demnach soll Guru im hinduistischen Verständnis alles bedeuten: ein Ort, Musik, eine Übung. Ich habe kein Beleg für diese Deutung gefunden. Vielmehr klare Nachweise, dass dieses Wort einfach „Lehrer“ im spirituellen Kontext bedeutet. Die Stellung solchen Lehrers unterscheidet sich je nach dem Glauben (Hinduismus, Buddhismus oder Sikhismus), doch eines ist klar: „Der Schüler hat seinem Lehrer Treue und unbedingten Gehorsam, in den meisten Fällen sogar göttlichen Respekt entgegenzubringen. Der Guru ist der Töpfer, der seinen Schüler formt und neu erschafft.“
Interessanterweise war diese herausragende Position schon lange zuvor ein Thema, mit dem sich traditionelle Schriften beschäftigten – auch mit der Problematik des Missbrauchs dieser Autorität, und nennen Kriterien wahrer und falscher Gurus.
Das Problem ist also altbekannt.
Und es bringt nichts, so zu tun, als ob das Wort „Guru“ falsch belegt wäre. Mit diesem Wort verbindet sich eine unglaublich große, autoritäre und unanfechtbare Macht. Vielmehr sollte man Aufklärungsarbeit leisten und vor selbsternannten Gurus warnen.***
Sehnsucht nach Autoritäten
Überraschenderweise finden jedoch immer noch ähnliche stark patriarchalische Machtverhältnisse in der westlichen Yogawelt einen fruchtbaren Boden. Es scheint ein tiefes Verlangen nach unfehlbaren Autoritäten zu bestehen, die klare Wahrheiten liefern und die von dem Druck, unter dem westliche Menschen leben, Befreiung versprechen. Das Vertrauen, dass der Guru weiß, was gut ist, übertrumpft oft das Vertrauen in den eigenen Instinkt. Es gibt auch ein wachsendes Bedürfnis nach mehr Spiritualität in der leistungsorientierten Westkultur. Die untergeordnete, aufnehmende Haltung bietet vielen Yoga-Schüler:innen möglicherweise eine Alternative zu der ständigen Bereitschaft, im Wettbewerb zu bestehen und aktiv zu sein. Sie müssen nichts leisten, nur zuhören und alles bedenkenlos annehmen. Doch man darf nicht aus den Augen verlieren, dass in einer Gesellschaft, in der hierarchische Strukturen noch immer präsent sind und das Streben nach sozialer Mobilität oft durch den Kontakt mit einer mächtigen „Autoritätsperson“ gefördert wird, ein fruchtbarer Boden für Missbrauch entsteht.
#MeeToo in Yogawelt?
Obwohl wir in einer Zeit nach „#MeToo“ leben und Feminismus ein wichtiger Aspekt der Yogapraxis geworden ist, geht die Yogawelt mit den Vorfällen immer noch sehr zögerlich um. Zum einen werden die Opfer nicht selbstverständlich geschützt und unterstützt – im Gegenteil, „Victim Blaming“ scheint noch immer verbreitet zu sein, was bedeutet, dass den Opfern häufig die Verantwortung für die Vorfälle zugeschrieben wird. Darüber hinaus finden sich in Fachzeitschriften, besonders im deutschsprachigen Raum, nur vereinzelt Artikel, die die Vorwürfe behandeln, oft auf eine vage und allgemein gehaltene Weise. Den Opfern wird kein Raum gegeben, ihre Geschichte zu erzählen.
Es wundert mich aber nicht, denn diese Zeitschriften sind darauf ausgerichtet, für das Produkt Yoga zu werben, also das Glück auf Erden zu verkaufen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Tiefgang passt da nicht hinein.
Fazit: Eine Yoga-Welt im Umbruch
Die Yoga-Welt muss sich dringend mit den patriarchalen und sozialen Ungleichheiten auseinandersetzen, die diese Missbräuche begünstigt haben. Es ist an der Zeit, den Guru-Kult zu hinterfragen und die hierarchischen Strukturen zu dekonstruieren, die in der Yoga-Welt nach wie vor eine Rolle spielen. Die Praxis von Yoga, die einst für spirituelle Freiheit und innere Ruhe stand, muss von den dunklen Schatten der Macht und des Missbrauchs befreit werden.
Nur wenn wir einen Raum für offenen Diskurs schaffen, können wir eine wirklich inklusive und respektvolle Yoga-Welt bauen. Eine Welt, in der jeder Mensch, unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht oder wirtschaftlichem Status, die wahre Tiefe der Yoga-Praxis erfahren kann – frei von Missbrauch und Manipulation.
*Als Ausnahme gilt vor allem Indira Devi, die Schülerin von T.S. Krischnamacharya
**Erst später und zaghaft breitete sich das Interesse für Yogapraxis unter weißen West-Männern aus. Und wer heute auf Tinder punkten will, postet seine halbnackten Fotos in Yogaposen.
*** Guru ist ein Ehrentitel für einen spirituellen Lehrer im Hinduismus, im Sikhismus und im tantrischen Buddhismus. Laut alter hinduistischer Tradition soll man im Laufe seines Lebens idealerweise vier Stufen durchlaufen, von denen die erste die des Veda-Studenten ist (brahmachari), gefolgt von der Stufe des Haushalters und Familienvorstandes, dann von der Stufe eines Waldeinsiedlers und schließlich der des weltentsagenden Wanderasketen, Samnyasin.
Quellen:
Report of An Olive Branch into Allegations of Misconduct. Ethics & Professionals Standards
Dyson, Pamela Sahara. Premka: White Bird in a Golden Cage: My Life with Yogi Bhajan (United States: Eyes Wide Publishing, 2019)
Orner, Eva (Regie). (2019). Bikram: Yogi, Guru, Predator [Film]. Pulse Films.
Godwin, Richard. 2017. He Said He Could Do What He Wanted: The Scandal That Rocked Bikram Yoga, The Guardian
Grisworld, Eliza. 2019. Yoga Reconsiders The Role of The Guru in The Age of #metoo. The New Yorker
Parikh, Jesal & Patel, Tejal. 2019. Gurus Killed Yoga. Yoga is Dead Podcast
Remski, Matthew. 2020. Yoga’s Culture of Sexual Abuse: Nine Women Tell Their Stories. The Walrus
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